Offener Brief an den Stadtrat Thale

Sehr geehrte Damen und Herren,

als ich Anfang Mai durch die MZ von Ihrem einstimmigen Beschluß erfuhr, mich zur Ehrenbürgerin der Stadt Thale zu ernennen, habe ich mich darüber einfach gefreut. Ich sah darin eine stellvertretende Anerkennung für alle diejenigen, die zu DDR – Zeiten Zivilcourage gezeigt haben, unbequem und anstößig waren und sich mit dafür einsetzten, daß ein menschenfeindliches und wirtschaftlich marodes System gestürzt wurde.

Mit Ihrem Beschluß vom 3. September, den langjährigen SED – Bürgermeister der Stadt Thale ebenfalls zum Ehrenbürger zu ernennen, ist meine ursprüngliche Freude dahin.

Das geht nicht gegen die Person, sondern ein Mann in dieser Position hat an maßgeblicher Stelle ein System mitgetragen, das ein ganzes Volk eingesperrt hat, ihm Menschenrechte wie Reise-, Meinungs- und Pressefreiheit vorenthielt; systematisch seine Bürger bespitzeln ließ und gezielt Angst verbreitete; Lebensläufe dauerhaft gestört und beeinträchtigt hat und sogar Menschenleben forderte – auch aus unserer Stadt!

Da ist der 15jährige, der wegen versuchter Republikflucht  kriminalisiert und eingesperrt wurde und seinem jungen Leben verzweifelt ein Ende setzte und der 28jährige, der noch im Dezember 1989 infolge eines mißglückten Fluchtversuches beerdigt werden mußte.

Ist das alles vergessen?

Bestürzt bin ich über die hinter einem derartigen Vorschlag stehende Nichtachtung aller Opfer dieses Systems; das Nicht - Wahrhabenwollen der Wirklichkeiten des real existierenden Sozialismus – und auch über Ihr Abstimmungsverhalten: Enthaltungen sind in diesem Fall eindeutig  ebenfalls Ja – Stimmen.

Ehrenbürgerschaft habe ich bislang als eine besondere Auszeichnung verstanden, die wenigen herausragenden Ereignissen zuzuordnen ist – so z. B.  wie es die Stadt Quedlinburg gestaltet: Seit 1989 wurden dort drei Persönlichkeiten zu Ehrenbürgern ernannt. In Thale haben Sie in nur wenigen Monaten sieben Kandidaten nominiert. Das entwertet eine Ehrenbürgerschaft.

Dazu noch ein Wunsch von mir: Überprüfen Sie doch bitte Ihre Satzung für die Verleihung der Ehrenbürgerwürde. In Quedlinburg müssen bei einem Antrag darauf alle Fraktionen zustimmen, sonst ist er sofort vom Tisch. Das verhindert eine unschöne und peinliche öffentliche Diskussion über Personen – und auch den Mißbrauch für parteipolitische Interessen in Wahlkampfzeiten!

Daß Sie einen so tapferen und angesehenen Widerstandskämpfer wie Axel von dem Bussche – Streithorst auf eine Stufe mit einem systemkonformen Bürgermeister stellen, finde ich unpassend.

Ich gehöre nicht zu denjenigen, die unsere Vergangenheit pauschal verurteilen und streichen bzw. unterschiedslos alle ehemaligen  Funktionäre in eine Schublade stecken wollen, doch hier sehe ich eine Grenze überschritten.

Ich wäre sehr gern stellvertretend für viele Unbequeme Ehrenbürgerin dieser Stadt geworden, die seit über 20 Jahren meine Wahlheimat ist und in der ich gern lebe und arbeite.

Doch ich möchte nicht in einem Atemzuge mit einem SED – Bürgermeister geehrt werden und bitte Sie um Verständnis für meine Entscheidung, eine Ehrenbürgerschaft unter diesen Umständen abzulehnen.

Ursula Meckel

7. September 1998

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