Kreissynode 4. April 1992

& Kanzelabkündigung 5. April 1992

DIPLOMATIE oder KUMPANEI

Kirche im Schatten des real-existierenden Sozialismus

Stasi – Akten: Das unheimliche Erbe der DDR

Liebe Synodale, liebe Gäste,

„Das unheimliche Erbe der DDR“, so lautet der Untertitel, den Pfarrer Joachim Gauck seinem Büchlein „Die Stasi – Akten“ gegeben hat.

Als unheimlich empfinde ich nicht nur, was jahrzehntelang geschehen konnte – was Menschen anderen Menschen und sich selbst antaten – sondern auch was jetzt geschieht im Umgang mit echten oder vermeintlichen Informationen aus Stasi – Akten oder von Stasimitarbeitern.

Unter besonderen Beschuss geraten ist die evangelische Kirche. Die umhergeisternden Zahlen sind ebenfalls unheimlich und ausgerechnet ein Herr Diestel entblödet sich nicht, Dreiviertel aller Mitarbeiter/innen unter die Spitzel zu zählen.

Bedauerlicherweise gibt es auch immer Leute, die bereit sind, jeden Blödsinn zu glauben – er muss nur skandalträchtig genug sein.

Zwischen diversen Behauptungen und lautstarken Anklagen gibt es leider auch die Fälle, wo kirchliche Mitarbeiter tatsächlich für die Stasi gearbeitet haben – wobei Motivation und Ausmaß sehr differenziert betrachtet werden müssen. Hier darf nichts beschönigt werden: Jeder Einzelfall ist schlimm!

Über den Enthüllungen gerät fast in Vergessenheit, daß die evangelische Kirche zuallererst einmal ein bevorzugtes OBJEKT der Bespitzelung war – wobei die „Firma“ vor nichts zurückschreckte, wie nicht nur der Fall des jetzigen sächsischen Innenministers zeigt. Ich vermute, daß bei der Stasi Akten über mehr als Zweidrittel der kirchlichen Mitarbeiter/innen existieren – und zwar Opferakten. Also so gefährlich wurden wir eingestuft und entsprechend beobachtet.

Inzwischen häuft sich der Vorwurf, die evangelische Kirche hätte eine „Kumpanei“ mit dem SED – Staat betrieben. Sicher wäre nicht uninteressant, mal genauer hinzusehen, von WEM derartige Angriffe kommen und zwar aus Ost und West – also wo diejenigen damals standen, als es noch ein geteiltes Deutschland gab.

Von der „Gratwanderung“ in den Jahren der DDR – Diktatur ist viel gesprochen worden, das will ich jetzt nicht wiederholen, nur andeuten:

Gratwanderung zwischen Opportunismus und Opposition – zwischen Anpassung und Verweigerung, zwischen Widerstand und Veränderung.

Gratwanderungen sind und bleiben gefährlich – Fehltritte nicht ausgeschlossen mit gefährlichen Folgen.

Wenn die evangelischen Kirchen so staatstreu gewesen wären, wie manche es jetzt darstellen und behaupten, warum standen sie dann unter so starker und konzentrierter Beobachtung?

Daß Mitarbeiter in Funktionen wie Herr Stolpe mit hochrangigen Staatsvertretern und auch mit der Stasi sprachen, kann nur jemanden verwundern, der von den 40 Jahren DDR keine Ahnung hat.

Wie viele Gespräche unser ehemaliger Propst Brinksmeier geführt hat, wird er vermutlich nicht mal selbst genau sagen können – schon gar nicht, was darüber schriftlich festgehalten wurde. Die Bewertung dieser Begegnungen bleibt eine Vertrauensfrage – für mich ist sie zum Beispiel in diesen Fällen überhaupt keine Frage.

Wer die Bewertung über den Inhalt von Gesprächen ausschließlich den Stasi – Offizieren überlässt, betreibt nachträgliche Geschichtsfälschung – das müsste jedem klar sein, der sich noch daran erinnert, wie erfolgsorientiert und politisch – einseitig hier zu Lande Berichte überall geschrieben wurden: Ob Rechenschafts- oder Wirtschaftsberichte, Brigadetagebücher oder Zeitungen. Warum wird dann heute den Aufzeichnungen von Stasi – Leuten manchmal der Wahrheitsgehalt des reinen Evangeliums zugeschrieben?

WEM NÜTZT DAS???

Ich finde, daß dies eine überaus wichtige Frage ist und imgrunde ist sie nicht sonderlich schwer zu beantworten: Wer hat ein Interesse daran, die Kirche, besonders die evangelische, in Misskredit zu bringen?

Nicht nur die „alten Feinde“. Die Kirche in der DDR war unbeliebt bei den Machthabern, weil sie – bei aller Unzulänglichkeit und Armseligkeit, die unbestreitbar sind! – unbequem war und blieb und sich eben nicht „gleichschalten“ und auch nicht ausschalten ließ. Die Kirche vertritt heute wieder bzw. weiter unbequeme Meinungen – und so, wie Kirchenleute früher als „rechts“ und „schwarz“ bezeichnet und bekämpft wurden, werden sie heute teilweise als „links“ und „rot“ attackiert.

Deshalb meine ausdrückliche Bitte bei allem, was sie hören oder lesen oder weitergeben: Prüfen sie den Wahrheitsgehalt und stellen sich die Frage: Wem nützt es? !

Kirchliche Mitarbeiter bei der Stasi – es gab sie und es gibt sie noch – eine traurige Tatsache. Für mich bleibt jedes Mal erschütternd, wenn z. B. Pfarrer in sie gesetztes Vorschussvertrauen missbraucht haben. Wo das nachweisbar ist und sie anderen geschadet haben oder das Beichtgeheimnis verletzt wurde, muss das disziplinarische Konsequenzen haben.

Wir alle bei der Kirche – ich traue mich, das so verallgemeinernd zu sagen – haben gewusst, daß es unter uns in den Gemeinden Leute gibt, die auf uns angesetzt wurden. Manchmal kam einer und sprach darüber – dann konnte er den Fängen der Stasi entkommen. Andere schafften oder wollten das nicht. Wie sollten wir damit umgehen?

Ich wollte mich nicht ständig misstrauisch umsehen und mich fragen: Ist es der oder ist es die? Zum einen, weil ich ganz bestimmt nicht auf die richtigen gekommen wäre und zum anderen, weil ich so nicht leben wollte und konnte – und außerdem auch nichts zu verbergen hatte.

Im Nachhinein betrachtet war das auch sicher richtig, denn – was so oft vergessen scheint - : Am Ende hat eben nicht die Stasi  bzw. der Staat, dem sie diente, gesiegt.

Daß wir uns mehrheitlich nicht von Misstrauen bestimmen ließen, hatte eine Kehrseite: Unser Vertrauen konnte missbraucht werden und wurde es auch. Auch das eine ganz bittere Erfahrung.

Für mich persönlich hat die Stasi seit knapp 14 Tagen ein Gesicht – und das Schlimme daran ist: Ein freundliches, offenes, mir vertrautes, vertrauenerweckendes. Mit dem Pfarrer Jürgen Kapiske habe ich jahrelang zusammengearbeitet bei Redaktionssitzungen, im Konsistorium, auf Synoden und bei Kirchentagen und privat. Auf ihn als Spitzel wäre ich nie gekommen, doch es ist bedrückende und beklemmende Wahrheit und am liebsten hätte ich mich einfach hingesetzt und geheult: Verrat tut weh – auch daß er, wie alle anderen – noch geleugnet hat als alles längst bewiesen war. Und er ist ja nicht einmal erpresst worden – und ich stehe da mit meinem Unverständnis und weiß, daß viele Fragen unbeantwortet bleiben werden.

Das ist das eine. Das andere ist – ich habe überlegt, wie viele Pfarrer bzw. kirchliche Mitarbeiter/innen ich kenne. Ich kann das nur schwer schätzen, aber 300 sind es ganz bestimmt. Zwei von ihnen haben als Zuträger für die Stasi gearbeitet und das enttäuscht mich, weil sie Vertrauen nicht gerechtfertigt haben. Wenn ich allerdings – wie es jetzt bei der Regelüberprüfung gefordert wird – allen von vorneherein misstraut hätte, wäre mir zwar die zweifache Enttäuschung erspart geblieben – aber ich hätte 298 Menschen Unrecht getan mit den Verdächtigungen.

Die Zahlen sollen nichts verniedlichen – was bleibt ist das menschliche Problem – und es ist übrigens kein nur ostdeutsches Problem. Mangelnde Zivilcourage  und die Verführbarkeit zum Unrecht sind weit verbreitet und ja auch nicht neu. Darüber müssen wir reden – um die Gefahr wissen, damit wir nicht immer wieder darauf hereinfallen.

Die Vergangenheitsaufarbeitung muss uns beschäftigen – sie darf uns nicht lähmen, weil wir als Kirche Aufgaben haben, die nicht warten können. So muss das zeitgleich geschehen und das ist zugegebenermaßen schwer.

Mir hat eine Erkenntnis geholfen: Wenn ich immer nur über Negatives nachdenke und rede, verbaue ich mir selbst die guten Erinnerungen und Erfahrungen. Vor einem Monat habe ich in Halle ein Kurz – Referat gehalten zu dem Thema: „Kirche im Schatten des Sozialismus“. Es sollte u. a. um den so genannten „Graben“ zwischen Kirchenleitung und Basis gehen. Bei der Vorbereitung darauf sind mir etliche Gelegenheiten eingefallen, wo Kirche sich deutlich gegen staatliche Aktionen gewehrt hat, beschimpft und bedroht und diffamiert wurde – und das Schutzdach Kirche hat gehalten.

Wir werden Gratwanderer bleiben – und damit gefährdet. Jesus hat seine Kirche mit allen möglichen und eigentlich unmöglichen Leuten aufgebaut. Ich glaube auch heute noch, daß seine Kraft in den Schwachen mächtig ist.

 

Pastorin Ursula Meckel, Thale

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