Der lange Weg zum "einig Vaterland"

Was eint und was trennt die Deutschen?

22. September 1994      Goethe – Center     Dallas/ Texas

Sehr verehrte Anwesende,

zunächst möchte ich mich ganz herzlich für die Einladung bedanken und für die Möglichkeit, hier vor Ihnen sprechen zu können.

Ich bin hier mit einer zehnköpfigen Bläsergruppe aus Ostdeutschland, aus der Gegend von Quedlinburg.  Wir besuchen, Gemeinden, lernen Familien kennen und etwas von Ihrem Land.  Mitgebracht haben wir Noten und Instrumente, spielen in Kirchen und wo immer es uns ermöglicht wird. Klassische Musik oder auch Volkstümliches.

Sie möchten heute etwas erfahren von dem weiten Weg der jahrzehntelang getrennten Deutschen zu einem wirklichen ”einigen Vaterland”; von dem Leben unserer Kirche ”im Schatten des Sozialismus” und von den Erfahrungen, die wir heute in Kirche und Gesellschaft machen.

Bei der Vorbereitung ist mir aufgefallen: ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll, so vieles fällt mir ein. Andererseits will ich Ihnen kein langes Referat halten, damit Sie anschließend die Möglichkeit haben, Ihre Fragen zu stellen.

Beginnen möchte ich mit einigen biographischen Daten, weil sie mit dem Leben in der DDR – Gesellschaft, in der Kirche und im geteilten Deutschland zu tun haben.

Geboren bin ich 1949 in Berlin, einer Stadt, die damals noch ungeteilt war. Aufgewachsen bin ich in beiden Teilen Berlins, meine Großeltern und viele Verwandte wohnten im Westteil der Stadt.

1961 wurde die Mauer in Berlin gebaut. Von einem Tag zum anderen war ich wie so viele andere abgeschnitten von Verwandten und Freunden. Erst 24 Jahre später  betrat ich erstmals wieder Westberliner Boden, als ich zu einem Kirchentag nach Westdeutschland fahren durfte.

So erstaunlich es klingen mag: Irgendwie haben sich meisten an das Eingesperrtsein gewöhnt. Es gab kaum eine Chance dagegen, eine Flucht war lebensgefährlich. Wir haben gelernt, mit der Mauer zu leben.

Als schlimmer habe ich empfunden, daß es so gut wie keine Möglichkeiten gab, kritische Meinungen öffentlich zu äußern. Bereits in der Schule wurden Kinder und Jugendliche darauf getrimmt, das zu sagen, was Lehrer hören wollten. Wer anderes wagte, hatte mit Konsequenzen zu rechnen.

Im Alter von 16 Jahren war ich an einer Mathematikspezialschule. Wir mussten einen Hausaufsatz schreiben zum Thema „Das ist Sozialismus“. Ich schrieb, was ich wirklich dachte und wurde von der Schule relegiert.

Aufgewachsen bin ich in einem atheistischen Elternhaus, meine Mutter war auch politisch nicht sonderlich interessiert. Mit 12 Jahren begegnete ich kirchlichen Mitarbeitern, fand zur Gemeinde, ließ mich später konfirmieren. Das hatte für mich viel zu tun mit Sinnfindung und Geborgenheit im Glauben; mein Vertrauen in die Menschheit war zu diesem Zeitpunkt gering. Von Jesus zu hören, tat mir einfach gut und half mir, besser mit mir und anderen zurechtzukommen.

Von schulischer beziehungsweise staatlicher Seite wurde mir schnell klargemacht, daß ein Bekenntnis zur Kirche ein politisches Handeln war. Für die Machthaber war die Kirche gefährlich, obwohl es offiziell eine Glaubens- und Gewissensfreiheit gab. Ich habe ein paar Punkte zusammengestellt, was die Kirche für den DDR – Staat so bedrohlich machte:

·     Da passte etwas nicht ins Schema, Menschen verweigerten sich, entzogen sich staatlicher Einflussnahme, die den „wissenschaftlichen Atheismus“ proklamierte.

·       In der Kirche wurde gelehrt: „Du sollst Gott mehr gehorchen als den Menschen.“ und „Liebe deine Feinde.“ statt des bereits im Kindergartenalter proklamierten Feindbildes. („Der Westen.“)

·          In den Kirchengemeinden konnte gehört werden: ihr seid FREIE Menschen – auch wenn wir äußerlich nur wenige Freiheiten hatten. Für mich ist immer das Bild von Paulus am Ende der Apostelgeschichte wichtig gewesen: Er lebte als Gefangener in Rom, eingesperrt in einen Raum, gefesselt an einen Soldaten und dennoch hieß es von ihm: Er predigte  f r e i  das Evangelium.

Für mich persönlich habe ich die Gemeinschaft der Kirche auch als Ermutigung erlebt. Jesus meint es ja ernst wenn er sagt: „Ich sende euch wie Schafe unter die Wölfe.“ und das ist gefährlich.

Von meinem Pfarrer habe ich einen Spruch gelernt, der mich sehr geprägt hat, auch schon beim Verfassen des erwähnten Aufsatzes: „Der eine fragt, was kommt danach, der andre nach dem Recht; und darin unterscheidet sich der Freie von dem Knecht.“

Ich wollte frei sein – und letztlich hat uns der Staat unsere innere Freiheit auch nicht nehmen können.

Konfliktstoffe gab es reichlich: Die Auseinandersetzung um den „freiwilligen Zwang“ bei der Teilnahme an der so genannten Jugendweihe, Unterschriftsleistungen gegen die „friedensfeindlichen Westmächte“ (so nannte sich das), Diskussionen um den Wehrdienst bzw. die Verweigerung.

Ob wir es wollten oder nicht: Wer sein Christsein öffentlich bekannte, wurde in politische Konfrontationen hineingezwungen.

Hinzu kam, daß Kirchengemeinden Begegnungen mit dem „Klassenfeind“ organisierten: Westdeutsche und ausländische (z. B. amerikanische) Gruppen besuchten uns. Das wurde zwar immer beargwöhnt und bespitzelt, doch konnte es nicht ganz verhindert werden. Außerdem brachten die Besucher/innen harte Devisen mit, auf die der Staat dringend angewiesen war. Diese Kontakte nach außen waren für uns sehr wichtig. Sie korrigierten, was in unserem Bereich erzählt wurde.

Das Verhältnis zwischen Staat und Kirche unterlag im Laufe der Jahre immer wieder Schwankungen. Die bösartigen Kampagnen der 50-ziger Jahre wiederholten sich nicht. Damals wurden Studentinnen/en und Schüler/innen, die sich zur Jungen Gemeinde hielten, von den Universitäten und  zum Abitur führenden Schulen verwiesen, Heime der Kirche enteignet, Mitarbeiter/innen inhaftiert.

Später versuchten staatliche Stellen sich mit der Kirche zu arrangieren – sie hatten erkannt, daß Kirche doch nicht so schnell ausstirbt, wie es geplant war.

Innerhalb der Kirche haben wir uns durchaus nicht als reine Widerstandskämpfer/innen verstanden. Vor allem in den 70-ziger Jahren haben die meisten von uns an einen „verbesserlichen Sozialismus“ geglaubt. Ein schwerer Irrtum, wie sich herausstellte. Wobei ich die Grundidee des Sozialismus sogar für gut halte, nur: Sie geht von einem Menschenbild aus, das nicht stimmt. Das der Bibel ist realistischer.

Das Leben der Kirche in der DDR bewegte sich zwischen Widerstand und Anpassung – es war eine Gratwanderung. Dabei sind immer wieder auch Menschen gestolpert – wir waren keine Märtyrerkirche und die Zivilcourage ist längst nicht immer so groß gewesen, wie sie hätte sein können. Beurteilen kann das wohl nur, wer so gelebt hat. Und im Nachhinein sieht vieles natürlich auch wieder ganz anders aus.

Hauptamtliche kirchliche Mitarbeiter/innen hatten es leichter als andere. Gegenüber staatlichen Stellen hatten wir so etwas wie eine „Narrenfreiheit“. Bei vielen Nichtchristen hatten wir einen guten Ruf: Den der Vertrauenswürdigkeit. So sammelten sich zuletzt auch Menschen in Kirchen, die eigentlich mit dem Glauben nichts zu tun hatten, aber einen Freiraum für sich und ihre Wünsche suchten. Das war nicht immer ganz einfach, auch deutlich zu machen: Wir sind für alle da aber nicht für alles.

 

Wie konntet ihr so leben, werde ich heute manchmal gefragt von Leuten, die sich das nicht vorstellen können. Als Erstes will ich dazu sagen: Ich war nicht unglücklich, habe nicht das Gefühl vertaner Zeit. Bei allem Komplizierten habe ich mich in meiner Kirche immer wohlgefühlt, Gemeinschaft und auch Schutz erfahren. Und: Manches habe ich einfach nicht gewusst und das war auch gut so, wie ich jetzt weiß. Vielleicht hätte ich sonst doch manches anders gemacht.

Vor wenigen Wochen hatte ich die Gelegenheit die Akten zu lesen, die der Staatssicherheitsdienst der DDR über mich angelegt hat – gefunden wurden bis jetzt zwei dicke Aktenordner. Natürlich haben wir mehr geahnt als gewusst, daß viele von uns bespitzelt wurden. Wie schlimm es tatsächlich war, wollten wir im Grunde nicht wahrhaben. Zum Beispiel wollte ich mich nicht ständig umsehen und mich fragen: Ist es der oder ist es die? So hätte ich nicht leben wollen und vor allem: Es waren immer die ganz anderen, diejenigen, von denen es überhaupt niemand erwartet hätte. So war es in meinem Fall jedenfalls tatsächlich.

Zusammen mit meinem Freund und Kollegen, dem Pfarrer an der anderen Gemeinde in Thale, wurden wir als „Operativer Vorgang KATHEDRALE“ geführt und beobachtet. Wir wurden beide als besonders staatsfeindlich und gefährlich eingestuft. Auf mich waren jahrelang zwei „IMB“ – Inoffizielle Mitarbeiter mit Feindberührung – angesetzt, die regelmäßig Kontakt zu mir suchten und Berichte schrieben.

Ziel der Beobachtungen war es, uns wegen „staatsfeindlicher Hetze“ ins Gefängnis zu bringen. Das Strafmaß hätte zwischen einem und zehn Jahren Haft bestanden.

Fast bedauernd wurde in Zwischenberichten immer festgestellt, daß wir uns „knapp unterhalb der Grenze einer strafrechtlichen Relevanz“ befanden. Ich gestehe noch einmal: Ich bin froh, das so genau nicht gewusst zu haben!

Meine Post wurde kontrolliert, mein Telefon abgehört, meine Besucher/innen beobachtet. Weil wir kirchliche Mitarbeiter waren, hat man sich letztlich doch nicht an uns herangetraut. Die Verhaftung einer Pastorin hätte zu einem Aufschrei der westlichen Medien geführt. Das konnte sich die DDR – Führung in den 70-ziger und 80-ziger Jahren nicht mehr leisten.

(Um hier nicht zu ausführlich zu werden, verzichte ich an dieser Stelle auf Beispiele, warum wir beobachtet wurden. Auf Anfrage kann ich gern später etwas dazu sagen.)

Daß ich meine Akten inzwischen gelesen habe, brachte mir auch zwei ganz positive Bestätigungen: Alle Vorgesetzten meiner Kirche haben sich immer hinter uns gestellt und uns geschützt. Und, trotz diverser Bemühungen ist es nicht gelungen, Menschen aus den Gemeinden zu finden, die zu solchen Spitzeldiensten bereit waren. Das finde ich einfach toll!

Vor allem deshalb, weil es in den Jahren nach der „Wende“ immer wieder versuche gab, die evangelische Kirche im Nachhinein zu diskreditieren: Sie sei voller Spitzel gewesen, fast jeder Dritte sei Mitarbeiter der Stasi gewesen.

Leider ist es tatsächlich so, daß einzelne sich zur Zusammenarbeit bereit gefunden haben und jeden Einzelfall finde ich schlimm. Die Gründe dafür sind ganz unterschiedlich, sie reichen vom Erpreßtwordensein über ehrliche Überzeugung bis hin zu eitler Dummheit.

Bei den Versuchen, die gesamte evangelische Kirche in Mißkredit zu bringen und sie zu verleumden, frage ich immer: Wem nutzt das? Und dann fallen mir diejenigen ein, die davon profitieren. Zum einen sind es dieselben wie vorher, die schon wieder in wichtigen Positionen sitzen und zum anderen diejenigen, die lieber eine stille, unpolitische Kirche hätten, die sich nicht in das Alltagsgeschehen einmischt.

Die evangelische Kirche war zu DDR – Zeiten aufmüpfig und verstand sich als Anwältin der Mundtotgemachten und der Schwachen – wir wollten Anstöße geben und das wirkt anstößig: Wer sich einsetzt, setzt sich aus. Meine Überzeugung ist: Wer Jesu Lehren ernst nimmt und versucht, danach zu leben, wird immer mit Mächtigen in Konflikte geraten.

 

Damit gehe ich zum dritten und letzten Teil meiner Notizen über: Dem deutsch – deutschen Einigungsprozess.

Ich gehe davon aus, daß die Bilder des Herbstes 1989 bis hin zum Fall der Mauer auch hier zu sehen waren und bekannt sind. Es war eine kurze Zeit des Höhenfluges, die ich nicht missen möchte. Menschen, die ihre Angst hinter sich ließen, erhobenen Hauptes, mit Kerzen in den Händen friedlich auf die Straßen gingen, überfüllte Kirchen, auch bei uns in Quedlinburg und Thale.

Daß es Menschenmassen waren, darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß sich nicht einmal 5 % der DDR – Bürger/innen an diesen Demonstrationen beteiligt haben. Die weitaus meisten haben hinter den Fensterscheiben abgewartet, was denn daraus würde – und die Angst hatte ja berechtigte Ursachen. Erst als klar war, daß es nicht ein Ende wie in China nehmen würde, kamen auch die anderen. Sie haben die Ziele verändert.

Am Anfang wurde auf den Straßen skandiert: „Wir sind DAS Volk!“ – ein selbstbewusstes Bekenntnis gegenüber den Herrschenden, deren Zeit längst abgelaufen war. Als die anderen dazukamen hieß es: „Wir sind EIN Volk!“ – und das war etwas anderes. Da erst kam die „Wiedervereinigung“ ins Gespräch, an die vorher im Grunde niemand mehr so recht geglaubt hatte. Vorherrschende Ziele waren nicht mehr Reise- und Meinungsfreiheit, sondern der höhere Konsum und Lebensstandard. Ich will das gar nicht diffamieren – bei meinem ersten Besuch in Köln 1985 haben mich die Warenhäuser auch mehr interessiert als der Dom.

In den bewegenden Wochen nach dem Mauerfall konnte sich wohl niemand vorstellen, wie schnell Mauern in den Köpfen sein würden, die noch schwerer zu beseitigen sind. Nachdem sie sich in der ersten Zeit ehrlich gerührt um den Hals gefallen sind, wollen Deutsche einander jetzt eher an die Gurgel gehen. Das ist traurig, doch irgendwie verstehbar.

Die Mauer in den Köpfen war schon vorher da – nur unsichtbar. 40 Jahre Trennung sind eine lange Zeit, fast zwei Generationen. Nach 1961 fanden Begegnungen im Alltag zunächst gar nicht mehr statt, später fast ausschließlich auf ostdeutschem Gebiet. Dabei waren die Rollen eindeutig und klar verteilt: Die besuchten Ostdeutschen waren die Empfangenden. Sie bekamen Gäste und Gastgeschenke. Beides war wichtig.

Die Besucher/innen hatten sich auf eine belastende, fast gefährliche Reise hinter Mauer und Stacheldraht gemacht. Das allein hatte seinen Wert.

Den Alltag der jeweils anderen konnten weder Besucher noch Besuchte erleben. Also machten wir uns Bilder voneinander und die mußten falsch sein. Hinzu kam, daß sich die Ostdeutschen sehr viel mehr für die Westdeutschen interessierten als umgekehrt: Wir lebten überwiegend tagsüber im Osten und abends beim Fernsehen im Westen. Die Ost – Nachrichten waren nicht anzusehen. Wir kannten fast alle westdeutschen Politiker, aber nicht unsere eigenen. Umgekehrt war das gar nicht möglich.

Dennoch blieben wir uns fremd. Als ich nach 24 Jahren erstmalig in der alten Bundesrepublik beim Kirchentag war, wurde im Deutschlandfunk ein Interview mit mir gesendet. Dabei sprach ich von meinen Erlebnissen in diesem für mich „fremden“ Land. Jemand schrieb einen empörten Brief, wie ich als Deutsche so etwas von Deutschland sagen könnte. Doch ich habe dieses Land, die Bundesrepublik, als fremd erlebt und manchmal geht es mir bis heute so.

Ich bin eine Deutsche, von Geburt an. Dafür kann ich nichts und es war mir nie wichtig. Zum einen, weil es mir abgesprochen wurde: In der DDR mussten wir uns „DDR – Bürger“ nennen und den Begriff „Deutsche“ hatten die Westdeutschen für sich reklamiert. (Zum Beispiel wurde ein DDR – Delegierter beim Kirchentag gefragt: „Wann müssen sie denn wieder weg aus Deutschland?“) Das war keineswegs böse gemeint, es war nur Gedankenlosigkeit.

Weil ich mich mit dem DDR – Staat nicht identifizieren wollte, habe ich meine wirkliche Heimat in der Kirche gesucht und gefunden.

Die deutsche Einheit ist auf dem Papier verwirklicht. Dennoch bleibt es noch ein langer Weg zu einer echten inneren Einheit. Inzwischen kursieren Vorurteile über die anderen Deutschen. Da gibt es den „Besserwessi“ (den Westdeutschen, der alles besser zu wissen meint) und den „Jammerossi“ (den Ostdeutschen, der über alles klagt).

In der DDR ist ein System zusammengebrochen, das moralisch und wirtschaftlich völlig marode und am Ende war. Wie schlimm es wirklich war, hat keiner voraussehen können. Nur besteht die Gefahr, die Menschen gleichzusetzen mit dem System. Es sei eben alles nichts wert gewesen im Osten, die Menschen auch nicht. Das verstärkt ein kollektives Minderwertigkeitsgefühl der Ostdeutschen.

Der Westdeutsche galt schon lange etwas in der Welt, der Ostdeutsche nicht mal etwas in den Ostblockländern. Unser Geld war dort nichts wert.

Von westdeutscher Seite kam oft die Bewertung: Die Ostdeutschen hätten Angst vor der neu gewonnenen Freiheit und könnten damit nicht umgehen. Für mich gilt etwas anderes: Ich habe keine Angst vor der Freiheit, sondern vor den neuen Unfreiheiten, die ich noch immer nicht kenne.

Das Wort „Wiedervereinigung“ wird widersprüchlich bewertet. Für die Älteren kam zusammen, was schon immer zusammengehört; Jüngere fragen: Wieso Wieder – Vereinigung? Was verbindet uns außer einer gemeinsamen Sprache und einer gemeinsamen Vergangenheit, die wir aber nicht erlebt haben?

Im Grunde ist die Enttäuschung groß, auf beiden Seiten. Viele Ostdeutsche haben  Politikerversprechungen geglaubt und hofften, ganz schnell westlichen Lebensstandard zu haben. Das war gar nicht möglich und es wird noch Jahre dauern.

Die Westdeutschen empfinden die Ostdeutschen als undankbar. Ihnen hat niemand gesagt, wie teuer die deutsche Einheit werden würde und daß es auch der Einzelne zu spüren bekommen würde.

Ein Kollege von mir hat es einmal so gesagt: Wir (Ostdeutsche) brauchen euch, aber ihr (Westdeutsche) braucht uns nicht. Sicher stimmt daran, daß die alte Bundesrepublik noch lange hätte ohne uns weiterexistieren können. Dennoch möchte ich diesen Satz nichts so ohne weiteres unterschreiben. Die deutsche Vereinigung bringt Veränderungen, so wie sich in Europa alles verändert hat.

In der Regel lösen Veränderungen Ängste aus. Sie zu durchschauen um besser damit leben zu können, kostet Kraft und Zeit und Mühe, sich einander aussetzen. Zurzeit habe ich den Eindruck, daß die Menschen mehr übereinander reden als miteinander. Ich sehe eine wichtige Aufgabe der Kirchen darin, wie früher gegen bestehende Widerstände Begegnungen zu organisieren.

Womit ich selber noch enorme Schwierigkeiten habe ist die Dominanz des Geldes. Es bestimmt alles, auch in unseren Kirchen. Doch das ist noch einmal ein ganz anderes Thema. Fast sieht es aus als schaffe die Marktwirtschaft, was dem Sozialismus nicht gelungen ist.

Im Gespräch mit westdeutschen Freunden ist mir etwas Wichtiges deutlich geworden. Anfangs wurde viel beziehungsweise ausschließlich von den Verletzungen und Deformierungen Ostdeutscher gesprochen, die es zweifellos gibt. Erst beim Miteinanderreden wird klar, daß es Verletzungen und Deformierungen auch bei Westdeutschen gibt, wenn auch andere, mit anderen Ursachen. Ohne Anpassung lässt sich auch dort nicht leben, den Freiheiten sind Grenzen gesetzt. Vor allem, wenn jemand Karriere machen will.

Als besonders hilflos machend erleben Ostdeutsche, daß die Machthaber des alten Staates rechtlich kaum zu greifen sind und nicht zur Verantwortung gezogen werden können für ihre Untaten. Oft gilt: Die Kleinen fängt man und die Großen läßt man laufen. Das macht ebenso wütend wie die Tatsache, daß viele Funktionäre längst wieder einflussreiche Posten haben (sie sind ja besonders anpassungsfähig und haben das bewiesen), Offiziere der alten DDR – Armee jetzt ihren Dienst tun bei dem ehemaligen Erzfeind.

Eine Partei nennt sich „christlich“, obwohl ihr im Osten Deutschlands nicht einmal 10 %   Christen angehören. Das schadet wiederum der Kirche, weil viele nicht unterscheiden können.

In manchem wirkt sich aus, daß Ostdeutsche zu wenig einüben konnten, eigenverantwortlich zu leben. Der „Vater Staat“ hatte ja alles organisiert. Die Bürokratie heute ist den meisten noch immer ein Buch mit sieben Siegeln. Verlierer/innen der deutschen Einheit sind außerdem Schwächere der Gesellschaft: Ältere Menschen in Seniorenwohnheimen; Frauen, die keine Arbeit mehr finden und andere sozial Schwache. Die Arbeitslosigkeit liegt offiziell bei 25 %. Die Zahl der Geburten ist von 200. 000 im Jahre 1989 zurückgegangen auf 80. 000 im Jahre 1993 (in Ostdeutschland).

Einen Weg des Zueinanders sehe ich darin, daß wir miteinander reden, uns unsere Lebensgeschichten erzählen. Dann können wir verstehen, was uns geprägt hat. Das gilt auch bei Gesprächen zwischen Ostdeutschen, zum Beispiel Funktionären der alten Partei und überzeugten Christen. Es gilt vor allem für Gespräche zwischen Ost- und Westdeutschen. Dabei kann klar werden, daß wir in der DDR nicht nur gelitten haben und die BRD kein Schlaraffenland war und ist.

Wir sind alle Deutsche, wir sind auch andere Deutsche. Das zu verstehen braucht Zeit.

Am 3. Oktober 1990, dem Tag der Deutschen Einheit, konnte ich an einer Tagung mit west- und ostdeutschen Teilnehmern mitmachen. Dabei ging es um die „Auflösung“ der DDR. Dieses Wort „auflösen“ löste bei mir eine Reihe von Assoziationen aus: Auflösen, sich zersetzen, verschwinden. Und dann fiel mir ein, wie sich Zucker in Tee oder Kaffee auflöst. Er ist nicht sichtbar und doch verändert er den Geschmack des Ganzen.

Damit will ich nicht sagen, daß wir aufgelösten Ostdeutschen den Westdeutschen das Leben versüßen. Zurzeit ja eher verbittern. Ich sehe eine Chance darin, nicht bitter zu bleiben, sich Verbündete zu suchen über die Mauer in den Köpfen hinweg.

Das ist schon deshalb wichtig, damit nicht noch im Nachhinein siegt, was die DDR – Führung und die Staatssicherheit wollten!

Und damit es wieder Umarmungen geben kann, die dem anderen nicht die Luft nehmen. Das halte ich nicht nur für wünschenswert, sondern auch für möglich.

Neben unerfreulichen Erfahrungen gibt es auch die vielen guten: Kirchentage mit ihrem ehrlichen Umgangston; ich könnte erzählen von gelungenen deutsch – deutschen Konfirmandenfreizeiten und von vielem anderen.

 

Damit Sie noch Zeit und Gelegenheit haben, Ihre Fragen zu stellen, breche ich hier einfach ab. Ich bin mir des Subjektiven und Fragmentarischen durchaus bewusst – und bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit!

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